Das Problem

Drucken PDF
Ständig hören wir, die Mobilität nehme weiter zu, wir seien heute so mobil wie noch keine Generation vor uns. Diese Behauptung ist einfach falsch: Zweifellos fahren und fliegen wir heute viel weiter als alle Generationen vor uns, aber wir erreichen keinesfalls mehr Ziele, Gelegenheiten oder Freunde als frühere Generationen. Alle Forschungen zum Verkehrsverhalten zeigen: In allen Gesellschaften und zu allen Zeiten haben sich die Menschen ihre Dörfer und Städte so eingerichtet, dass man im Mittel ungefähr drei Wege am Tag unternimmt und dafür ca. eine Stunde unterwegs ist. Das war vor hundert Jahren genauso wie heute, das ist in Afrika genauso wie in Los Angeles.
Was sich aber in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat ist unser Verkehr: Wir reisen heute oft, vor allem aber weit, und auch unsere Nahrungsmittel und Güter werden immer weiter transportiert. Unser Leben spielt sich an immer weiter voneinander entfernten Orten ab. Im täglichen Leben ist das Auto zur Triebfeder dieses Lebensstils geworden; vielen ist kaum noch bewusst, dass man auch zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit Bus und Bahn mobil sein kann. Das ist auf die fatale Gleichsetzung von Mobilität und (motorisiertem) Verkehr zurückzuführen. Aber: Mobilität bedeutet, Orte erreichen zu können, um dort Bedürfnisse abzudecken. Es geht also um die Erreichbarkeit von Arbeitsplatz, Einkaufen, Arztpraxis, Schule usw.
Mit der Entwicklung der motorisierten Transportmittel in den 200 Jahren gingen uralte Menschheitsträume in Erfüllung: vom Fliegen, vom Reisen, von unabhängiger individueller Mobilität. Menschen – und zwar einer wachsenden und großen Zahl – war es möglich, bequemer, sicherer und mit mehr Gepäck oder Gütern auch größere Entfernungen in kürzerer Zeit zurückzulegen. Eisenbahnen ermöglichten nationale Einigungsprozesse und die Öffnung der Städte, Straßenbahnen u.a. das Pendeln zur Arbeitsstätte, das Automobil die individuelle Fortbewegung und damit auch die Möglichkeit, sich zu entfernen (u.a. aus dörflicher Enge). Es wurde aber von Anfang an versäumt, diese auch sozialen Errungenschaften in Bahnen kollektiver Nutzung zu lenken. Fortschrittsglaube, individuelle Wünsche und die Interessen der Fahrzeug-, Straßenbau und Mineralölindustrie verbanden sich dann mit den Jahren zu einer unheiligen Allianz: Der Verkehr wurde so individualisiert, beschleunigt und verbreitet, dass wir heute in erster Linie Getriebene dieser Entwicklung sind. Der heutige Verkehr ist mit hohen gesellschaftlichen Kosten und Umweltbelastungen verbunden und verschlechtert die Lebensqualität zusehends:
  • Wir steuern auf eine Klimakrise kaum abschätzbaren Ausmaßes zu, und der Verkehr hat erheblichen Anteil daran. Betroffen vom Klimawandel sind alle Menschen, aber ganz besonders auch solche, die überhaupt nicht am modernen Verkehr teilnehmen.
  • Der Energiehunger unserer Verkehrssysteme (etwa 30% des fossilen Energieverbrauchs weltweit!) ist nicht mehr mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar: Das Fördermaximum bei Erdöl ist überschritten, fossiler Treibstoff wird zukünftig immer teurer werden. Auch sogenannte „Bio-Kraftstoffe“ können diese Probleme nicht lösen, tragen aber dazu bei, den Hunger weltweit zu verschärfen.
  • Verkehrslärm und Luftverschmutzung verursachen Erkrankungen der Menschen, und oft sind vor allem ärmere Teile der Bevölkerung betroffen. Bei Verkehrsunfällen kommen weltweit mehr als eine Million Menschen jährlich ums Leben; mehrere Millionen Menschen werden verletzt und tragen oft bleibende Schäden davon.
  • Schon jetzt sind fünf Prozent von Deutschland (16.000 km²) durch Verkehrsflächen versiegelt, und immer noch mehr Parkraum und Straßen reduzieren die verfügbaren Flächen für Parks, Erholungsgebiete, Spielflächen, Stadtbild und Natur.
Das „Entwicklungsmodell“ unserer Gesellschaft beruht vor allem darauf, dass immer mehr Verkehrswege für immer schnellere und größere Fahrzeuge, Züge, Schiffe, Flugzeuge usw. geschaffen wurden: Das Wachstum des Personen- und Güterverkehrs wurde massiv gefördert. Einkaufszentren „auf der grünen Wiese entstanden“; nahräumliche Strukturen „an der Ecke“ verschwanden. Für kleine Mobilitätsbedürfnisse muss man heute oft weit fahren, verbraucht viel Kraftstoff, Geld, Fläche sowie Zeit und erzeugt Abgase und Lärm: Viel Verkehr für wenig Mobilität. Eine Fortsetzung dieser Verkehr erzeugenden Politik bedient unter dem Vorwand von Wirtschaftsförderung und Beschäftigungssicherung starke Einzelinteressen und vergrößert damit gleichzeitig die automobile Abhängigkeit und die Schwierigkeit eines notwendigen Paradigmenwechsels.